Diese Woche stolperte ich über einen interessanten Aufsatz von Schnürer, Das revisionssichere Urteil in Strafsachen, NStZ 2024, 523.
Der Aufsatz richtet sich zwar primär an Richterinnen und Richtern der Strafkammern an den Landgerichten. Aber auch für die Verteidigung lässt sich daraus viel über die „Denke“ einer Strafkammer und eines Revisionsgerichts lernen. Für gestandene Verteidigerinnen und Verteidiger steckt sicherlich nicht viel Neues darin, aber die klaren, knackigen Formulierungen sind trotzdem lesenswert.
Verfahrensziel: Rechtskraft
Eingangs stellt Schnürer – selbst Richter an einem Landgericht und einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am BGH – fest, dass „die Bearbeitung von Strafverfahren mit dem Ziel, zu einem rechtskräftigen Urteil zu gelangen, … die alltägliche Arbeit der Strafkammern der Landgerichte“ präge.
Daher gibt Schnürer seinen Berufskolleginnen und -kollegen „einige allgemeine Anregungen für die praktische Arbeitsweise“ mit auf den Weg, „die auf eine Erhöhung der Revisionssicherheit der eigenen Entscheidungen abzielen.“
Insbesondere
„soll es um die Frage gehen, wie man zu einem Urteilstext gelangt, der einer Überprüfung im Revisionsverfahren standhält. Die Überlegungen sind dabei auf die in der Praxis am häufigsten vorkommende Konstellation einer Verurteilung bezogen, lassen sich aber weitgehend auch auf freisprechende Urteile übertragen.“
Arbeitshypothese: (Vor-)Verurteilung
Die wichtigste – und für die zu verteidigende Mandantschaft gravierendste – Anregung scheint mir diese zu sein:
„Es bietet sich etwa für den Berichterstatter an, bereits nach der ersten Lektüre von Anklageschrift und wesentlichen Aktenbestandteile [sic] stichpunktartig das am wahrscheinlichsten erscheinende Ergebnis in der Struktur des späteren Urteils niederzulegen.“
Wahrscheinlichstes Ergebnis heißt hier: Verurteilung. Das Grundgerüst für eine Verurteilung, einen Schuldspruch, steht also schon, noch bevor der erste Hauptverhandlungstag anbricht und die erste Beweisaufnahme stattfindet. Damit ist auch klar, dass die Anklage zugelassen wird. Anker- und Inertia-Effekt lassen zusätzlich grüßen.
Ein Kollege, der eine Fortbildung zu „Verteidigungskonzepten für die Hauptverhandlung“ hielt, sagte einmal treffend:
„Wenn nichts passiert, was nicht in der Akte steht, dann wird der Angeklagte verurteilt.“
Hauptverhandlung: Bestätigung der Arbeitshypothese
Danach braucht sich der Tatrichter in der Hauptverhandlung nur noch die passenden „Puzzleteile“ zusammensuchen, die es für die spätere Begründung der Verurteilung braucht:
„Ist beim Tatgericht an den entscheidenden Stellen Problembewusstsein geweckt, ist ihm die Möglichkeit eröffnet, durch gezielte Sachaufklärung in der Hauptverhandlung alle relevanten Argumente ‚zu sammeln‘, die es zu einer überzeugenderen Begründung des Urteils benötigt. So können die beteiligten Richter frühzeitig abschätzen, welche Beweismittel sie für überzeugende Ausführungen in den schriftlichen Urteilsgründen benötigen und welche in der Akte niedergelegten Umstände sie durch spezifische Nachfragen bzw. durch Vorhalte bei Zeugen oder Sachverständigen einführen müssen. Mögliche Lücken können unter Umständen durch ergänzende Fragen geschlossen werden.“
Fazit Der Aufsatz ist jeder angehenden Strafverteidigerin und jedem angehenden Strafverteidiger wärmstens zu empfehlen. Er zeigt in aller Klarheit auf, warum eine engagierte Verteidigung zwingend erforderlich ist: Damit etwas passiert, was nicht in den Akten steht. |